Streitwert in Verfahren mit Verweis auf EU SLAPP Richtlinie reduziert
Das Oberlandesgericht Dresden hat in einem Urteil vom 22.10.2024 den Streitwert eines Unterlassungsverfahrens unter anderem mit Verweis auf die neue EU-Richtlinie gegen missbräuchliche Gerichtsverfahren (SLAPP) deutlich reduziert. Dies stellt einen der ersten dokumentierten Fälle dar, in dem ein deutsches Gericht die noch nicht in nationales Recht umgesetzte Richtlinie 2024/1069 bei der Streitwertbemessung berücksichtigt.
Die Hentschke Bau GmbH und ihr Geschäftsführer Jörg Drews klagten gegen den VVN-BdA Sachsen wegen verschiedener Äußerungen in einem Artikel über "Unternehmerisches Engagement für die extreme Rechte in Ostsachsen". Der Bericht war vom Beklagten unter dem Namen "15 Grad Research" in Zusammenarbeit mit dem Else Frenkel-Brunswik Institut der Universität Leipzig veröffentlicht worden.
Die Kläger wandten sich gegen mehrere Formulierungen des Berichts, die sie als unwahre Tatsachenbehauptungen, bewusst unvollständige Berichterstattung und unzulässige Verdachtsberichterstattung ansahen. Das Landgericht Dresden hatte der Klage zunächst vollumfänglich stattgegeben und den Streitwert auf 60.000 EUR festgesetzt.
Das OLG Dresden hat das erstinstanzliche Urteil teilweise aufgehoben und den Streitwert auf 20.000 EUR reduziert. Dabei stützte sich das Gericht auf mehrere Erwägungen: Die inhaltliche Überschneidung der verschiedenen Anträge, die begrenzte regionale Bedeutung des Falls, die vermutlich geringe Verbreitung des streitgegenständlichen Artikels, den Grundgedanken von Art. 4 Nr. 3 der EU-Richtlinie 2024/1069 über missbräuchliche Gerichtsverfahren gegen öffentliche Beteiligung
Verweis auf die SLAPP-Richtlinie - Jetzt ist der deutsche Gesetzgeber gefragt
Das OLG Dresden hat die EU-Richtlinie 2024/1069 gegen SLAPPs (Strategic Lawsuits Against Public Participation) bei der Streitwertbemessung berücksichtigt, obwohl diese noch nicht in deutsches Recht umgesetzt wurde. SLAPP-Klagen sind strategische Gerichtsverfahren, die darauf abzielen, kritische Stimmen u.A. durch hohe Prozesskosten einzuschüchtern. Die Berücksichtigung der noch nicht umgesetzten Richtlinie zeigt, dass deutsche Gerichte bereits jetzt beginnen, den europäischen Gesetzgeberwillen zum Schutz öffentlicher Beteiligung in ihre Entscheidungen einzubeziehen.
Für die Rechtspraxis bedeutet dies, dass bei der Streitwertfestsetzung in ähnlich gelagerten Fällen künftig möglicherweise verstärkt darauf geachtet werden muss, ob es sich um ein Verfahren handeln könnte, das in den Anwendungsbereich der SLAPP-Richtlinie fallen würde. Dies gilt insbesondere bei Klagen gegen kritische Berichterstattung oder wissenschaftliche Untersuchungen zu Themen von öffentlichem Interesse.
Bemerkenswert ist dabei, dass die vorgenommene Streitwertreduzierung nicht direkt aus dem Text der Richtlinie folgt. Das OLG Dresden hat vielmehr eigenständig aus dem Grundgedanken der Richtlinie eine Reduzierung des Streitwerts abgeleitet. Dies wirft eine Reihe neuer Fragen auf: Was genau ist unter diesem "Grundgedanken" der Richtlinie zu verstehen? In welchen Fällen muss oder darf ein Gericht ihn berücksichtigen - etwa nur bei inhaltsgleichen Anträgen wie im vorliegenden Fall? Und welche konkreten Rechtsfolgen ergeben sich daraus? Führt die Berücksichtigung automatisch zu einer Streitwertreduzierung oder erhöht sie lediglich die Anforderungen an die Darlegung der Streitwertbedeutung durch den Kläger?
Diese Rechtsunsicherheiten könnte der Gesetzgeber durch eine klare Regelung der Streitwertbemessung bei SLAPP-artigen Klagen ausräumen. So macht das Urteil des OLG Dresden auch deutlich, wie dringend eine zeitnahe und umfassende Umsetzung der EU-Richtlinie in deutsches Recht erforderlich ist. Dass sich das OLG Dresden bei seiner Entscheidung auf eine noch nicht umgesetzte Richtlinie beruft, ist außergewöhnlich und kann nicht als selbstverständlich vorausgesetzt werden - und wirft, wie gesehen, einige Fragen auf.
Um einen effektiven und flächendeckenden Schutz vor SLAPP-Klagen zu gewährleisten und potentielle Unsicherheiten bei Richter*innen zu klären, muss der Gesetzgeber die Richtlinie daher zügig und in vollem Umfang in deutsches Recht umsetzen. Nur so können alle Gerichte einheitlich und rechtssicher gegen missbräuchliche Klagen vorgehen und den vom europäischen Gesetzgeber bezweckten Schutz der öffentlichen Debatte gewährleisten.