Ungarn verfolgt Journalisten mittels Pegasus-Spyware
Ungarn gehört zu den Regierungen, die die von der israelischen NSO Group entwickelte Spionagesoftware Pegasus einsetzen, um Journalisten, Aktivisten und politische Dissidenten zu überwachen. Das ergaben die Recherchen eines Konsortiums von Mediengruppen.
Die Hardliner-Regierung von Premierminister Viktor Orban, die seit Jahren repressive Maßnahmen gegen unabhängige Medien ergreift, setzt nachweislich die Software ein, mit der Informationen über Nutzer selbst von den neuesten Mobiltelefonen extrahiert werden können.
Mehr als 300 ungarische Telefonnummern, die u.a. mit Journalisten, Anwälten, Geschäftsleuten und Aktivisten verbunden sind, erschienen auf einer Liste von Telefonnumern, die von Kunden der NSO Group zur Überwachung ausgewählt wurden. Während einige der ungarischen Telefonnummern auf der Liste mit verurteilten Kriminellen in Verbindung gebracht wurden, die legitime Ziele für Ermittlungen sein könnten, enthüllte die Washington Post, dass zwei davon Journalisten für das Outlet Direkt36, Szabolcs Panyi und Andras Szabo, gehörten.
Die Washington Post sagte, die Verwendung der Spyware in Ungarn "deutet darauf hin, dass die Behörden bereit sind, Taktiken wiederzubeleben, die seit dem Übergang zur Demokratie vor drei Jahrzehnten als verboten galten, und die weitreichenden digitalen Datenschutzbestimmungen, die die Europäische Union erlassen hat, zum Gespött zu machen."
Ungarn ist der einzige EU-Mitgliedsstaat, dessen Behörden als Kunden der NSO Group gelten. Deren Dienste werden typischerweise von Ländern in Anspruch genommen werden, die über keine eigenen hochentwickelten elektronischen Überwachungsmöglichkeiten verfügen. Orbans Büro wich Fragen aus, ob ungarische Sicherheitsbehörden NSO-Kunden seien oder ob Journalisten und andere Mitglieder der Zivilgesellschaft mit Pegasus-Spionageprogrammen überwacht worden seien.
In einer Regierungserklärung hieß es, das Land sei "ein demokratischer Rechtsstaat".
Der ungarische Außenminister Peter Szijjarto sagte Reportern, er "hatte und hat keine Kenntnis von dieser angeblichen Datensammlung."
Die ungarische Justizministerin Judit Varga sagte der Post, bevor die Liste veröffentlicht wurde: "Es ist normales Vorgehen für ein Land, einen aktiven und schützenden Geheimdienst zu unterhalten. Das ist ein Muss für einen funktionierenden Staat." Sie fügte hinzu: "Es gibt überall so viele Gefahren für den Staat", und verteidigte die Überwachung.
50.000 Telefonnummern
Die NSO Group ist eine der berüchtigtsten "Malware-for-hire"-Organisationen der Welt geworden. Frühere Untersuchungen haben gezeigt, wie ihre Produkte von Dutzenden von Regierungen eingesetzt werden, um Journalisten, Aktivisten und andere auszuspionieren. Das Unternehmen wird derzeit von WhatsApp in den USA verklagt, weil es die Messaging-App als Kanal für seine Angriffe auf die Geräte der Zielpersonen verwendet.
Die neue Untersuchungsreihe, die von einem Medienkonsortium der in Paris ansässigen Journalismus-Non-Profit-Organisation Forbidden Stories und der Menschenrechtsgruppe Amnesty International veröffentlicht wurde, basiert auf einer Liste von 50.000 Telefonnummern, von denen angenommen wird, dass sie von den Kunden der NSO Group ins Visier genommen worden waren. Damit wird das Ausmaß des weltweiten Einsatzes der Spionagesoftware deutlich.
Die Daten wurden an 16 Nachrichtenorganisationen weitergegeben und ermöglichten es Journalisten, mehr als 1.000 Personen in 50 Ländern zu identifizieren, die angeblich von Kunden der NSO Group für eine mögliche Überwachung ausgewählt wurden. Die zehn Länder, die für die Auswahl der Ziele verantwortlich sind, sind vermutlich Aserbaidschan, Bahrain, Kasachstan, Mexiko, Marokko, Ruanda, Saudi-Arabien, Ungarn, Indien und die Vereinigten Arabischen Emirate. Alle zehn haben sich zuvor als Kunden der NGO Group erwiesen.
Zu den Personen, deren Telefonnummern auf der Zielliste identifiziert wurden, gehören 189 Journalisten, mehr als 600 Politiker und Regierungsbeamte, mindestens 65 Führungskräfte aus der Wirtschaft, 85 Menschenrechtsaktivisten und mehrere Staatsoberhäupter. Die Journalisten arbeiten für Organisationen wie The Associated Press, Reuters, CNN, The Wall Street Journal, Le Monde und The Financial Times.
Die NSO Group hat jegliche Verbindung zwischen den Telefonlisten, über die die Gruppe berichtet hat, und ihrer Technologie bestritten und gesagt, dass sie "die Systeme, die sie an überprüfte Regierungskunden verkauft, nicht betreibt und keinen Zugang zu den Daten der Zielpersonen ihrer Kunden hat."
NSO Chief Executive Shalev Hulio sagte später der Zeitung, dass einige der berichteten Anschuldigungen "beunruhigend" seien, einschließlich der Überwachung von Journalisten. "Das verstößt gegen das Vertrauen, das wir unseren Kunden entgegenbringen. Wir untersuchen jede Anschuldigung ... und wenn wir feststellen, dass sie wahr ist, werden wir strenge Maßnahmen ergreifen."
Pegasus kann den totalen Zugriff auf ein Gerät ermöglichen, so dass NSO-Kunden E-Mails, SMS, Anrufe und Fotos einsehen können, einschließlich Nachrichten in verschlüsselten Kommunikations-Apps wie WhatsApp und Signal. Die gewonnenen Informationen würden es NSO-Kunden ermöglichen, Journalisten und ihre Quellen zu kompromittieren und zu verfolgen.
Amnesty sagte, dass ihre forensischen Forscher Pegasus-Spyware auf dem Telefon der Verlobten des ermordeten Post-Journalisten Jamal Khashoggi, Hatice Cengiz, vier Tage nach dessen Ermordung im saudischen Konsulat in Istanbul im Jahr 2018 gefunden hätten. Der Guardian berichtete, dass der mexikanische Reporter Cecilio Pineda Birto im Jahr 2017 ermordet wurde, wenige Wochen nachdem seine Handynummer auf der durchgesickerten Liste auftauchte.
AP's Director of Media Relations, Lauren Easton, sagte, das Unternehmen sei "zutiefst beunruhigt zu erfahren, dass zwei AP-Journalisten, zusammen mit Journalisten von vielen Nachrichtenorganisationen" auf der Liste stehen.
"Die Anzahl der Journalisten, die als Ziele identifiziert wurden, illustriert anschaulich, wie Pegasus als Werkzeug zur Einschüchterung kritischer Medien eingesetzt wird. Es geht darum, die öffentliche Berichterstattung zu kontrollieren, sich der Kontrolle zu entziehen und jede abweichende Stimme zu unterdrücken", sagte Amnesty-Generalsekretärin Agnes Callamard.